Dies ist ein Text aus meiner Instagram-Story, die in meinem Story-Highlight „ARD-Doku-ADHS“ gespeichert ist, hier zusätzlich mit zahlreichen Stimmen aus der Community. Es lohnt sich also auch dort noch einmal reinzuschauen.
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Ich bin unfassbar konsterniert und, ja, wütend über die Dokumentation: Eckart Hirschhausen und ADHS. Es ist keine Dokumentation über ADHS, sondern nur eine Dokumentation darüber, dass anscheinend die einzige Möglichkeit im Umgang mit ADHS darin besteht, Medikamente zu nehmen. Obwohl ich selbst keine ADHS-Medikamente nehme, bin ich keine Medikamenten-Gegner⋅in, im Gegenteil, Medikamente müssen dringend entstigmatisiert werden. Ich finde es trotzdem schwierig, Medikamente zwangsläufig als Mittel erster – oder sogar einziger -Wahl hinzustellen. Es braucht dafür einen sehr bewussten Umgang, wenn man sich dafür entscheidet – und es sollte eben auch eine bewusste, gut durchdachte und informierte Entscheidung sein. In dieser Doku wurden Medikamente allerdings sehr undifferenziert betrachtet. Um nur ein paar Dinge anzusprechen: Nebenwirkungen wurden viel zu kurz angesprochen (und auch viel zu wenige genannt). Es wurde nicht darauf eingegangen, dass Medikamente bei ADHSler⋅innen unterschiedlich wirken können. Dass es auch ADHSler⋅innen gibt, bei denen sie gar nicht wirken. Dass Medikamente bei vielen große Enttäuschung hervorruft, weil ihnen vorgegaukelt wird, dass man nur die Pille schlucken muss und dann ist alles gut (was einfach nicht der Fall ist). Dass sie mitunter gewechselt werden müssen, weil der eine Wirkstoff nicht funktioniert und es lange dauern kann, bis das richtige Mittel gefunden und dann auch gut eingestellt wird – oder eben auch nie das richtige Mittel/Dosierung gefunden wird. Dass sich die meisten Psychiater⋅innen nicht mit Medikamentation bei Personen mit monatlichem Zyklus auskennen, dass hier anders dosiert werden muss, je nach Hormonphase und dass das kaum möglich ist, weil die Dosierungen nicht so angeboten werden können, wie sie gebraucht werden. Dass es Menschen gibt, bei denen Medikation generell ruhiger macht, aber es trotzdem nicht hilft, sich zu konzentrieren. Oder dass es hilft, sich zu konzentrieren, aber auch nicht auf die Dinge, auf die man sich konzentrieren sollte. All das und mehr kommt vor, und das wurde in der Dokumentation nicht thematisiert. Das ergibt in der Gesamtheit ein sehr einseitiges Bild zu ADHS-Medikamenten (btw. was sollten die Markennamennennungen??).
Nach der Diagnose werden sofort Medikamente verschrieben, ohne Zeit zu lassen, die Diagnose zu verarbeiten. Vielleicht steckt man noch mitten im Trauerprozess. Hier muss erst einmal mit Akzeptanz gearbeitet werden, bevor eine gut überlegte Entscheidung getroffen werden kann. Das ist ein großes Problem, denn Medikamente sind kein Wundermittel. ADHS-Medikamente ändern ein ADHS-Gehirn nicht grundlegend, sie wirken im Moment. In vielen Fällen unterstützen sie, aber sie machen niemanden neurotypisch und sie ändern nichts an all den Glaubenssätzen, dem Gaslighting, den Barrieren, den Mikrotraumata, die wir aufgrund unseres unentdeckten ADHS erfahren haben.
Es wurde einfach 45 Minuten durchgehend über Medikamente geredet, als andere Möglichkeiten im Umgang mit ADHS wurde lediglich Verhaltenstherapie am Rande erwähnt, ohne näher darauf einzugehen, was in der Verhaltenstherapie gemacht wird.
Das ganze Narrativ von: es ist eine Krankheit/Störung und muss behandelt werden, damit ADHSler⋅innen besser funktionieren, ist schädlich. Es wurde nicht berücksichtigt, wie sehr der Leidensdruck auch mit der Umgebung, fehlender Unterstützung und Akzeptanz, unserer Gesellschaft, nicht vorhandenen Privilegien und Barrieren zusammenhängt. Die einzige Person, die darauf hinweist, ist der junge Mann aus dem Gefängnis, der sehr gute, sehr differenzierte, sehr durchdachte Aussagen gemacht hat. Es gibt eine Szene, in der eine Jugendliche sagt, dass sie die Medikamente nicht mag und sie eigentlich nicht nehmen möchte. Das wird zwar gezeigt, was gut ist, aber es wird nicht weiter eingeordnet. Das finde ich höchst problematisch, denn anscheinend kann die junge Person, sich nicht frei dagegen entscheiden.
Was mir weiterhin übel aufgestoßen ist:
– Es wird viel von „Betroffenen“ gesprochen. Ich habe mal einen Beitrag dazu verfasst, warum das Wort „Betroffene“ in diesem Zusammenhang ableistisch ist.
– Die Erklärung zu ADHS und Botenstoffen war falsch. Es gibt nicht per se einen Neurotransmitter-Mangel bei ADHS, das ist längst widerlegt.
– In der Dokumentation wird durchgehend von Störung, Aufmerksamkeitsstörung oder sogar Krankheit geredet, nicht von einem Spektrum. Dahingehend ist auch die Einordnung von Hirschhausens ADHS als „moderat“ schwierig. Das gibt es in einem Spektrum nicht, es ist nicht linear im Sinne von: schlimmer – weniger schlimm. Ja, es gibt ADHSler⋅innen, die haben einen größeren Unterstützungsbedarf als andere. Und darüber müssen wir reden! Dass es Unterstützungsbedarf gibt, dass Hilfen gewährleistet werden müssen, dass Barrierefreiheit und Nachteilsausgleiche gewährleistet werden müssen! Und nicht, dass man einfach eine Pille schluckt und dann ist es weg und wir funktionieren dann super in einer Gesellschaft, die nicht für uns gemacht ist, die uns abwertet und diskriminiert an allen Ecken und Enden – denn ADHS geht nicht weg! ADHS ist nicht behandelbar wie eine Krankheit, weil es keine Krankheit ist.
– Es wird eine Unterscheidung zwischen ADS und ADHS getroffen, die in dieser Form nicht mehr existiert. Die generelle Problematik der Bezeichnung Aufmerksakeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung zu thematisieren, wird hier verpasst. Man könnte ja mal erklären, dass es kein Aufmerksamkeitsdefizit ist, sondern eine andere Verteilung von Aufmerksamkeit. (Letzenendes aber nur konsequent, denn genauso wie der Name ADHS misleading ist, ist der Name der Dokumentation misleading. Es hätte nicht ‚Hirschhausen und ADHS‘ heißen sollen, sondern ‚Hirschhausen und ADHS-Medikamente‘.)
– Das Konzept der Neurodiversität wird in der Dokumentation nicht behandelt. Dass Eckhart von Hirschhausen den Begriff „neurodivers“ falsch benutzt und in der Redaktion niemand dies überprüft und korrigiert, lässt mir die Haare zu Berge stehen. Er wird im Gespräch mit ihm korrekt verwendet („neurodivergent“), und trotzdem benutzt er ihn falsch.
– Wie wichtig ADHS für die Entwicklung der Gesellschaft ist/war, wird nicht thematisiert. So etwas wie die Hunter-Farmer-Theorie fehlt völlig. Dass die reichsten Personen der Welt, die durch Entrepreneurship erfolgreich geworden sind, oft ADHSler oder anders neurodivergent (und ja, in fast allen Fällen weiße cis Männer, wo wir wieder bei Privilegien wären) sind, wurde nicht erwähnt. Stattdessen wird es als sehr defizitär hingestellt und pathologisiert (da hilft dann auch nicht das mal eingeworfene: Aber es gibt auch gute Seiten – v.a. weil kaum „gute“ Seiten benannt werden – überhaupt, was soll diese ständige Bewertung von gut und schlecht? Ich bins so leid).
– Das Wort ‚Hyperfokus‘, m.E. eines der wichtigsten Merkmale von ADHS, wird nur ein einziges Mal erwähnt, von Lisa, The Unnormal Brain. Leider wird ihr nicht der Raum gegeben, den sie mit ihrer Expertise verdient hätte. Stattdessen werden wie üblich neurotypische Expert⋅innen befragt.
– Und dann wird behauptet, die Superkraft von ADHSler⋅innen sei, dass sie Stehaufmännchen sind? What? Das hört sich an, als sei das irgendwie sehr einfach, immer wieder aufzustehen oder als läge es in unserer Natur. Ja, ADHSler⋅innen stehen dauernd auf, weil wir viel öfter hinfallen und uns überall Beine gestellt werden. Wir haben ja keine Wahl, weil es keine Hilfen gibt, die uns davor bewahren, hinzufallen. Was bleibt uns denn anderes übrig? Wir stehen ständig auf und ziehen uns Kraft aus der Zukunft, bis sie halt alle ist und wir irgendwann nicht mehr aufstehen können. Ich sage nur: 13 Jahre verkürzte Lebenszeit. Was für eine unüberlegte Haltung, Undifferenziertheit, was für eine verdammt ignorante Sichtweise das ist!
– Die Sache mit dem Sport: Ja, Sport hilft bei ADHS, aber nur bei den Personen, die Sport mögen und sich dafür interessieren. Personen, die das nicht interessiert (und die das daher nicht !können!), werden an verzweifelt aufgebauten Routinen scheitern, werden sich jede Minute quälen, werden ihre kostbare Kraft verbrauchen und es wird sie so stressen, dass nicht nur das ADHS stärker wird, sondern sie sich wieder als Verager⋅innen fühlen, wahrscheinlich sogar geshamed werden („Selbst Schuld, wenn du den A**** nicht hochkriegst“), also wieder gegaslightet werden, all das Mikrotrauma erwacht wieder und das ist dann genau das, was Komorbiditäten geradezu einlädt. Es ist dahingehend gefährlich, so etwas zu postulieren, ohne es einzuordnen.
– Und überhaupt in dieser Doku: Wo ist der Umgang mit Routinen? Wo ist das interessenbasierte Nervensystem? Wo sind die schwach ausgeprägten exekutiven Funktionen? Was ist mit divergentem Denken? Mit ellenlangen Assoziationsketten, mit Kreativität, mit dem Elefantengedächtnis für subjektiv interessante kleinste Details? Was ist mit Entspannung, die sich mitunter grundlegend von Entspannung von NTs unterscheidet, z.B. durch Medienkonsum? Was ist mit Möglichkeiten, Dopamin zu steigern, ohne Medikamentation? Was ist mit Kaffee? Was ist mit Musik? Was ist mit Fidget Toys und Stimming? Nicht einmal wurde das Stimming erwähnt. Oh mein Gott.
Es fehlt so viel Grundlegendes. So viele wichtige Aspekte, die dringend hätten behandelt werden müssen und die nicht enthalten sind – und der Platz wäre dagewesen, wenn es nicht 45 Minuten lang durchgehend um Medikation gegangen wäre. Es ist eine Entscheidung, das nicht zu tun. Und es ist keine, die ADHSler⋅innen hilft, v.a. auch nicht in der Akzeptanz von außen. Denn nun kann es heißen: Mein Gott, du nervst / du kriegst schon wieder nichts auf die Reihe / hier siehts aus wie Sau / du bist schon wieder im Burnout/ du denkst zu viel / du bist überdramatisch / du schaffst es nicht, deinen Chronotyp zu ändern, dann nimm doch einfach deine Medikamente.
Die Dokumentation ist extrem medikamentationsfixiert (in undifferenzierter Art und Weise), defizitorientiert, pathologisierend und hat das Konzept von Neurodiversität ausgeklammert. Es kommt in der Essenz so rüber, als sei ADHS etwas das zwangsläufig zur Sucht führt und immer behandlungswürdig ist: es etwas ist, wovon wir den Großteil wegkriegen müssen. Nicht: behandlungswürdig in dem Sinne, dass wir in Akzeptanz gehen und unser Leben unserem Gehirn anpassen, mit den Schwierigkeiten umgehen lernen – auch lernen, mit den internalisierten neurotypischen Glaubenssätze einen Umgang zu finden und dann ein gutes Leben führen können, ohne Komorbiditäten zu entwickeln. Und da dürfen Medikamente auch unterstützend zur Seite stehen. Neben den verschreibungspflichtigen auch pflanzliche und Mineralstoffe und Vitamine etc. Dieses: Es müssen unbedingt Medikamente genommen werden, das ist der einzige Weg, ohne sie landet man fast zwangsläufig in der Sucht, und Medikamente funktionieren immer super, heilen ADHS und weiter braucht man nichts, ist ein falscher und veralteter Ansatz. Die Doku ist unfassbar eindimensional und oberflächlich. Was soll so etwas? Wir haben das Jahr 2023. Wir reden seit Jahren über Neurodivergenz. Was läuft da falsch?
Mir wurde vor vielen Jahren beim Jobcenter gesagt: „Wenn Sie keine Medikamente nehmen, existiert ihr ADHS gar nicht für uns.“ Diese Dokumentation fördert Diskriminierungen dieser Art.
Die Gesellschaft muss beginnen, Menschen zu akzeptieren, deren Gehirn anders funktioniert als das Gehirn der größeren Gruppe, sie muss akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich denken / wahrnehmen / verarbeiten und daher andere Bedingungen brauchen, und sie muss für alle Menschen gleich zugänglich sein. Wir müssen insbesondere im Bereich der Barrierefreiheit arbeiten, auch in Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz, um zu mehr Akzeptanz zu kommen. Die Fehler des Systems, das NTs bevorzugt und alle anderen Neurotypen diskriminiert, wird hier als Verantwortung aufs Individuum abgewälzt. Das führt zu Schuld, das führt zu Scham. Und das ist einfach nicht akzeptabel.
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