1. Misogynie innerhalb der Entwicklung der Diagnostikkriterien
Die Diagnostik-Kriterien bei ADHS und Autismus wurden anhand der Außenwirkung von weißen cis Jungs aus wohlhabenden Verhältnissen – also die privilegierteste aller Bevölkerungsgruppen – festgelegt, die gesamte Forschung drehte sich um diese Gruppe.
Die Präsentation von ADHS/Autismus unterscheidet sich, u.a. aufgrund unterschiedlicher Sozialisation, mitunter deutlich von Mädchen, Frauen, nicht-binären Personen – diese marginalisierte Gruppe wird dadurch benachteiligt.
2. Misogynie im medizinischen / psychotherapeutischen System
Selbst wenn sich ADHS/Autismus bei AFAB (assigned female at birth – Personen, denen bei der Geburt das Geschlecht „weiblich“ zugeteilt wurde) nach außen hin stereotyp präsentiert, werden sie aufgrund von Diskriminierung häufig nicht als neurodivergent erkannt, sondern eher in psychische Störungen oder Erkrankungen einsortiert, die als „typisch weiblich“ gelten.
3. Aus 1.-2. folgt: Falsch angenommenes Genderverhältnis
Laaaaaaaaange ging man davon aus, dass das Verhältnis von Jungen zu Mädchen bei ADHS bei 4:1, bei Autismus bei sogar 6-8:1 liegt. Inzwischen wissen wir: Das Verhältnis ist weitestgehend ausgeglichen.
4. Aus 1.-3. folgt: Der absolute Großteil aller AFAB wird nicht in Kindheit und Jugend diagnostiziert – und viele versuchen dies im Erwachsenenalter nachzuholen, was auch nicht immer gelingt (wenn man an einen Diagnostikplatz gekommen sein sollte), u.a. weil die alten Stereotype in den Köpfen vieler Diagnostiker:innen noch vorherrschen und es auch hier noch häufig zu falsch-negativen Diagnosen kommt.
Selbstdiagnosen sind im Erwachsenenalter essentiell, um überhaupt den Weg zu einer offiziellen Diagnose zu ebnen, denn medizinisches/psychotherapeutisches Personal allgemein hat ein Wissen über ADHS/Autismus, das mit dem der Allgemeinbevölkerung vergleichbar ist – also so gut wie keins. Heißt, es kommt selten jemand drauf, wenn man nicht allein drauf kommt.
5. Aus 1.-4. folgt: AFAB sind häufig stark auf Selbstdiagnosen angewiesen, um sich und ihr Leben zu verstehen und so ändern zu können, dass es zu ihnen passt – auch, wenn ihnen Hilfen, auf die sie ein Recht haben und angewiesen sind, versagt bleiben. Zu formeller Diagnostik fehlt häufig der Zugang oder die Diagnose wird verwehrt. Selbstdiagnosen sind aber möglich, da zum ersten Mal das Wissen über Neurodivergenz verfügbar ist – und zwar nicht nur aus der klischeebehafteten Außenperspektive von NTs, sondern auch durch die Innensicht von Aufklärer:innen aus der Community.
6. Aus 1.-5. folgt: Die meisten Menschen, die auf Selbstdiagnosen angewiesen sind, sind AFAB. Die meisten Menschen, die über ADHS/Autismus im Erwachsenenalter aufklären, sind AFAB. Da tauschen sich jetzt also Frauen und nicht-binäre Personen mit anderen Frauen und nicht-binären Personen in Selbstermächtigung und Empowerment miteinander aus, vernetzen sich, betreiben Aufklärung, sind laut, holen sich den Raum zurück, der ihnen zusteht, und zweifeln zu Recht die Deutungshoheit von NT-Fachpersonen, deren Wissen und Allmacht abgelaufen ist, an.
Und, wird das wohl gern gesehen? (Rhetorische Frage)
Bitte beachten: Das alles gilt nicht nur für AFAB, auch alle anderen marginalisierte Gruppen, bspw. BIPoC, mehrfachbehinderte Personen, queere Menschen und sozial benachteiligte Personen, sind hier von Diskriminierung betroffen!
7. Was wäre, wenn der Großteil derjenigen, die auf Selbstdiagnosen angewiesen sind, cis männlich wären?
Aufgrund der Entwicklung sieht man schon, dass dies gar nicht denkbar wäre – aber ich wette mit euch, es würde in der Berichterstattung wohl eher um den großen Schock und um das große Bedauern gehen, dass cis Männer so lange unentdeckt unter dem Radar geflogen sind und so lange unnötig leiden mussten.
Und das sollte die Berichterstattung eben auch heute machen – anstatt schön misogyn AFAB ihre Selbstdiagnosen abzusprechen, sie zu shamen, zu verunsichern, ja, ihnen mal wieder Hysterie oder Unfähigkeit zur Erkenntnis zu unterstellen, und damit dafür zu sorgen, dass sie (wie immer!), nicht ernst genommen werden, in der Kindheit nicht und auch jetzt nicht. Sie sollten sich schämen.
Selbstdiagnosen retten Leben!