Über die Risiken von überstürztem Unmasking bei (ADHS+/)Autismus
Oder:
Masking oder Unmasking? – Das ist hier die Frage.
Ob Masking uns hilft oder schadet, ist – wie so vieles im Bereich der Neurodivergenz – kontext- und systemabhängig. Masking, also das Anpassen an die Erwartungen der neuronormativen Leistungsgesellschaft, ist ein Balanceakt zwischen Authentizität und Anpassung (in Diagnostikkreisen geht immer noch die Mär um, Autist:innen seien generell nicht in der Lage, sich anzupassen – lol).
Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf autistisches Masking, aber auch auf ADHS-Masking trifft vieles zu.
Dass wir überhaupt masken müssen, entsteht oft dadurch, dass NTs (Neurotypicals – neurotypische Menschen) soziale Anpassung wichtig ist – das liegt einerseits an ihrem Nervensystem (super kurz gesagt spielt hier die Dopaminausschüttung gut mit sozialer Anpassung zusammen und der „soziale Autopilot“ übernimmt viel, sprich: Anpassung fällt ihnen eher leicht und passiert automatisch). Andererseits spielen normative Strukturen eine Rolle: Es ist NTs nicht bewusst, dass es diverse Arten gibt, sich sozial zu verhalten. Für sie gibt es nur die neuronormative Art. Was davon abweicht, wird als „anders“ eingeordnet, abgewertet, geshamed, abgelehnt und pathologisiert. (Und ja, not all NTs.)
Masking ist ein Dilemma. Wir sind soziale Wesen, wollen dazugehören, akzeptiert, geliebt und gesehen werden. Zu NTs dazugehören und von ihnen akzeptiert zu werden, geht kaum ohne (und selbst dann gelingt es meist nicht) – geliebt werden (so, wie wir sind) und gesehen werden aber nicht mit Masking. Bewertung und Ablehnung sind allseits präsent, daher unterdrücken wir – bewusst und unbewusst – ADHS+/autistische Eigenschaften, verstecken sie, kokettieren, machen uns über uns selbst lustig. Es gibt so viele Möglichkeiten, viele tun weh, alle rauben Energie. Nicht selten treibt uns die Notwendigkeit des Maskings in den ND (neurodivergenten) Burnout.
Die Fragen stellen sich: Wenn wir weiterhin masken, wie sollen NTs dann die Möglichkeit haben, sich an unsere Kommunikationsstrukturen und Verhaltensweisen zu gewöhnen und sie zu akzeptieren? Wie können wir selbstbewusst auftreten, wenn wir uns aus Unsicherheit verstecken? Ist nicht die Kraftanstrengung des Maskens so immens, dass wir bald täglich erschöpft und ohne genug Energie für den restlichen Alltag zurück bleiben? Ist die Burnout-Gefahr nicht ein ewiges Damokles-Schwert, das über uns hängt? Sollten wir deshalb nicht einfach jetzt sofort mit dem Masking komplett aufhören?
Bitte nicht!
1. Es geht gar nicht so einfach, wie man denkt. Die meisten von uns masken schon so lange, dass wir es gar nicht mehr direkt mitbekommen. Unsere Strategien sind teilweise so subtil, dass wir sie nicht unbedingt als solche erkennen. Unmasking ist ein langer Prozess der Achtsamkeit und Bewusstwerdung, der Überwindung und voll von Gefühlen wie Angst und Scham. Gerade der Umgang mit den aufkommenden Gefühlen ist nicht zu unterschätzen – denn Masking kann auch folgendes sein:
2. Traumareaktion – entstanden durch regelmäßige, schmerzhafte Erfahrungen von Ablehnung, Ausgrenzung, Mobbing, Shaming etc. Zu unmasken, gerade in Situationen, in denen wir uns nicht sicher fühlen/nicht sicher sind, kann körperliche und psychische Reaktionen auslösen, auf die wir nicht vorbereitet sind. Auch Angst vor Reaktionen von nahestehenden Personen, die an unser maskiertes Selbst gewohnt sind, ist manchmal leider berechtigt – und die Ahnung, welche Konsequenzen wir ziehen werden. Beziehungen wandeln sich oft im Unmasking-Prozess. Die, die bleiben, sind es wert. Es entsteht die Chance auf authentische Begegnungen.
3. Viele habe Angst, sich in der Maske zu verlieren – sich selbst gar nicht zu kennen. Und ja, teilweise kommt es zu spannungsgeladenen Gaps zwischen dem Bild, das wir nach außen zeigen und dem, wie wir fühlen, wer/wie wir ohne Masking sind. Nach oft jahrzehntelangem Masking ist die Maske allerdings oft so sehr mit dem Selbstbild verbunden, dass sie Teil unserer Identität geworden ist. Und auch das ist okay! Identität ist so oder so ein Konstrukt. Wenn wir unmasken wollen, müssen wir uns eigentlich ganz neu kennenlernen und: (ein-)sortieren. Die eigene ND wird auch dadurch (neben dem Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Handeln) oft bestimmend für unsere (neue) Identität.
4. Noch ein weiterer Grund, warum plötzliches Unmasking (so es überhaupt möglich ist), gefährlich sein kann: Masking kann auch eine Überlebensstrategie und ein Schutz sein. Wenn wir im medizinischen Bereich, auf Ämtern und Behörden, am Arbeitsplatz etc. nicht (zu doll) ableistisch diskriminiert werden wollen, ist Masking oft essentiell. Besonders für BIPoC kann die Fähigkeit vor Übergriffen schützen oder sogar lebensrettend sein. Bestimmte Masking-Techniken (wie z.B. Scripting) können uns außerdem die benötigte Sicherheit geben, uns in einer unvorhersehbaren Welt zu orientieren.
Daher ist masken zu können eben auch ein Privileg, denn ohne sind wir mitunter viel stärker von Diskriminierung, Gewalt, Mobbing etc. bedroht. Nicht alle ADHS+/Autist:innen verfügen über diese Fähigkeit, und auch ist es eine fluktuierende Fähigkeit, die uns im ND Burnout verloren gehen kann. Welch Ironie, da die Notwendigkeit zum Masking oft dazu beigetragen hat, uns in den Burnout zu bringen. Metaphorisch könnte man sagen: Unser Körper wehrt sich gegen den kraftzerrenden Akt, indem er uns die Fähigkeit dazu nimmt, uns außerdem zwingt, Masking-Situationen generell zu vermeiden. Was unser Masking ist und was nicht, erkennen wir oft erst im Burnout, wenn die Fähigkeit dazu nicht mehr (verlässlich) da ist.
Nicht über Masking-Fähigkeiten zu verfügen kann in folgendem Kontext übrigens auch ein Privileg sein – denn die frühen Diagnosen sind wahrscheinlicher, wenn weniger gemasked wird (v.a. wenn man cis-männlich ist). Damit ist die Erklärung für die eigene Wahrnehmung, Erleben und Denken, nach der sich viele Spätentdeckte sehnen, von Beginn an da. Und evt., mit Glück, bekommt man sogar einige Unterstützung. Aber: Es kann auch gefährlich sein, wenn man bspw. traumatisierende Therapien erhält (Stichwort ABA – wenn ironischerweise versucht wird, Masking anzutrainieren). Inwiefern die (Un-)Fähigkeit oder Notwendigkeit zum Masking mit weiteren Privilegien zusammenhängt, sollte vielleicht auch noch mal (an anderer Stelle) betrachtet werden.
Häufige Abwertung (und dadurch evt. ein geringes Selbstwertgefühl) oder Burnout – was würdest du wählen?
Und was würdest du wählen, wenn es sich zwischen Mobbing und Burnout entscheidet?
Und was, wenn es nicht „nur“ Mobbing wäre, sondern deine Existenz real in Gefahr wäre?
Daher: Wenn es möglich ist, beginne mit dem Unmasking-Prozess achtsam und bewusst – und nur dort, wo du sicher bist. Bitte nicht überstürzt und unbedacht.
Wie schon gesagt: Unmasking braucht Zeit. Es ist okay und wichtig, dass du dir diese nimmst, um zu verstehen und zu verarbeiten, warum du das Masking in deinem Leben gebraucht hast und wozu du es immer noch benötigst. Ein bewusster Umgang mit Masking – punktuell eingesetzt – kann generell eine gute Möglichkeit sein. Es kann erholsam sein, Masking-freie Räume zu schaffen – und Situationen nach Möglichkeit zu meiden, in denen High-Masking vorausgesetzt wird. Und: nach Masking-Situationen bitte für Ausgleich sorgen (Stimming, Erholung, schlafen etc).
Nur kurz am Rande:
Dass NTs von uns – bewusst und unbewusst – Masking fordern, ist btw. auch eine Machtdemonstration. Hier wird gern mit Othering gearbeitet: Wir seien „die Anderen“, unser Verhalten die Abweichung – neurotypische Wahrnehmung, Denken und Verhalten wird dabei als Norm dargestellt, in die wir uns einfügen sollen, wenn wir teilhaben wollen. Diese Dynamik ist eine klassische Form von Unterdrückung.
Unmasking, damit NTs sich dran gewöhnen und nach und nach mehr Akzeptanz entstehen kann, ist schön und gut und hat auch eine Berechtigung – aber es darf letztenendes nicht unsere Verantwortung sein. Wir sind nicht dazu da, um irgendetwas für NTs zu tun, v.a. nicht, wenn es unsere Sicherheit gefährdet. Es geht sowieso nur, wenn wir die Kapazitäten haben – auch emotionale und psychische (Stichwort: Retraumatisierung).
Btw: Unter anderen NDs fällt das Unmasken oft leichter, die Spaces sind häufig für uns sicherer (auch nicht immer, natürlich). Bedenkt das Double Empathy Problem – wir verstehen uns untereinander oft besser!