Neuronormativität im Arbeitskontext
Strukturelle Barrieren für ADHS+/Autist:innen
Arbeitsbedingungen basieren i.d.R. auf neurotypischen (NT) Standards. Das bedeutet: typische NT-Fähigkeiten werden vorausgesetzt – in etwa stark ausgeprägte exekutive Funktionen, Flexibilität, Networking, Akzeptanz und Aufrechterhaltung von Hierarchien und sozialen Erwartungen, Höflichkeitsfloskeln und Small-Talk, traditionelle Arbeitsstrukturen, Pünktlichkeit etc.1
In vielen Berufen werden zudem typische ADHS+/Autismus-Fähigkeiten (z.B. Kreativität, Innovation, Mustererkennung, Detailgenauigkeit, divergentes Denken, Unkonventionalität, Problemerkennung und -lösungsfähigkeiten, intensive Fokusfähigkeiten, komplexe Systemanalyse und -optimierung, Direktheit2) als ein PLUS gesehen – allerdings nicht als gleichwertige Alternative, die statt der NT-Fähigkeiten eine eigene Berechtigung hätten.
Die NT-Fähigkeiten werden trotzdem erwartet.
Das bedeutet: Aus neuronormativer Sicht können vermeintliche Verfehlungen von neurodivergenten (ND) Personen nicht durch ihre ND-Fähigkeiten ausgeglichen werden, weil die „Verfehlungen“ neurotypisch standardisierte Fähigkeiten sind. Es sind eben jene Fähigkeiten, die bei NTs vorausgesetzt werden – und die dann innerhalb von Neuronormativität eben bei ALLEN Neurotypen vorausgesetzt werden.
Der Fehler ist eigentlich offensichtlich: Nicht alle Personen verfügen über dieselben Fähigkeiten – ergo kann nicht ein bestimmtes Set an Fähigkeiten, das v.a. NTs relativ automatisch zur Verfügung steht, vorausgesetzt werden. In einer neuronormativen Gesellschaft wird das aber trotzdem getan, da NT-Fähigkeiten zur Norm erhoben werden – und alle, die diese Fähigkeiten nicht oder schwach ausgeprägt haben, werden abgewertet und pathologisiert. Dabei wird nicht beachtet, dass diese Personen über andere, gleichwertige Fähigkeiten verfügen können.
Anmerkung: Mein Fokus liegt hier auf dem Arbeitskontext – also innerhalb eines Systems, das von unserer Leistungsgesellschaft geprägt ist und daher Fähigkeiten übermäßig bewertet und den Wert eines Menschen an ihnen misst (was ich als grundlegende Fehlannahme sehe). Ich spreche hier von Fähigkeiten, nicht wie sonst von Eigenschaften, weil es um das Ungleichgewicht zwischen typischen NT- und ND-Fähigkeiten innerhalb dieses Kontexts geht. Ein Mensch sollte weder aufgrund von vorhandenen oder nicht vorhandenen Fähigkeiten noch generell abgewertet, die Würde darf nicht angetastet werden.
Man kann niemanden aufgrund von Kreativität und innovativen Lösungsstrategien, divergentem Denken und Mustererkennung einstellen, aber dann die Person kritisieren, weil sie das Konzept von Hierarchien nicht versteht, E-Mails nicht akkurat, schnell oder „höflich“ genug beantwortet, ungenaue Arbeitsanweisungen nicht umsetzen kann oder keinen Small-Talk hält (also NT-Erwartungen nicht gerecht wird).
Genau das passiert aber in neuronormativen Arbeitsstrukturen. Hier wird sich Diversität oft nur oberflächlich auf die Fahne geschrieben, um von ND-Fähigkeiten zu profitieren, ohne die Strukturen inklusiv anzupassen.
Dies bringt ADHS+/Autist:innen in die Zwangslage: Zusätzlich zum Arbeitspensum den neuronormativen Erwartungen gerecht zu werden. Wir haben also ein Gros an Mehr-Arbeit, nämlich typische NT-Fähigkeiten extern herzustellen – etwa durch Coping-Strategien oder Masking, soweit dies überhaupt möglich ist. Dies wird in neuronormativen Verhältnissen als Selbstverständlichkeit gesehen und nicht als Belastung anerkannt. Für uns ist dies ein Garant für schnelle Energieverluste, wodurch das gefürchtete Damoklesschwert des ND-Burnouts immer tiefer über unseren Köpfen hängt (/Metapher).
Die Krux an Neuronormativität: Diese zusätzlichen, gefährlichen Anstrengungen werden i.d.R. gar nicht als solche wahrgenommen, weil neuronormative Strukturen voraussetzen, dass wir – wie NTs – automatisch über diese Fähigkeiten verfügen. „Scheitern“ wir an NT Erwartungen, wird uns meist nicht fehlende Anpassung der äußeren Strukturen zugestanden, sondern „Charakterschwächen“ vorgeworfen.d6e2f2
Privilegien von NTs werden auch dadurch sichtbar, dass sie meist nicht einmal auf die Idee kommen, dass wir nicht über NT-Fähigkeiten verfügen. Denn Neuronormativität ist eben die gesellschaftliche Annahme, dass neurotypische Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen der (einzig korrekte) Standard sind, an dem sich alle Menschen messen lassen müssen.
Das ist so ungerecht wie es falsch ist – und trägt zu struktureller Diskriminierung und Benachteiligung von NDs bei.