Gedanken zu ADHS+/autistischen vs. neurotypischen Menschen
Ich beantworte es natürlich gleich, weil Cliffhanger kann ich nicht: Weder noch. Auch wenn wir in der Community immer so gerne sagen, dass wir in einer Welt leben, die nicht für uns gemacht wurde, in einer Welt, die auf NTs (neurotypische Menschen) ausgerichtet ist, einer Welt, die von NTs für NTs gebaut wurde. Aber nein, weder für sie noch für uns ist das System gedacht – NTs passen nur besser ins Konzept von patrarchalen, kaptalistischen Strukturen.
(Es ist btw. wahrscheinlich, dass am Ausbau ausbeuterischer Systeme auch NDs beteiligt waren/sind.)
Ich verstehe, was mit: „die Welt ist nicht für uns gemacht“ gemeint ist. Letztenendes wollen wir ausdrücken: Die Welt ist scheiße für uns, sie ist voller Barrieren und Hindernisse, verhindert Teilhabe, diskriminiert uns. Und das stimmt auch.
Allerdings schwingt in diesem Narrativ immer mit, dass die Systeme, in denen wir leben, auf NT-Bedürfnisse zugeschnitten seien und das impliziert, dass es für sie nicht scheiße sei. Und beides ist nicht nur unzutreffend, sondern erzeugt einen Gap zwischen uns, ein Wir-gegen-die-Gefühl. Gerade in einer Welt, einer Zeit, in der wir dringend zusammenhalten sollten.
Ausgerichtet ist das System auf weiße, reiche Männer – egal ob NT oder ADHS+/Autist:innen.
Das bedeutet nicht, dass wir nicht diskriminiert werden oder dass wir nicht zum Kreis marginalisierter Personengruppen gehören. Aber die ND*-typische Diskriminierung ist eng an Macht- und Klassendynamiken geknüpft. Aus diesen Dynamiken entsteht auch Neuronormativität, die den Rahmen gibt, um Menschen, die nicht oder weniger produktiv „funktionieren“, abzuwerten und kleinzuhalten. NDs mit vielen Privilegien werden durch ebendiese vor Abwertung und Diskriminierung geschützt
Aus diesen Dynamiken entsteht auch Neuronormativität, die den Rahmen gibt, um Menschen, die nicht oder weniger produktiv „funktionieren“, abzuwerten und kleinzuhalten. NDs mit vielen Privilegien werden durch ebendiese vor Abwertung und Diskriminierung geschützt.
Es ist so wichtig, dass wir uns klar machen, dass wir nicht auf entgegengesetzten Seiten stehen, dass auch NTs unter ausbeuterischen Systemen leiden und es ihnen in der derzeitigen Welt nicht gut geht!
Das zeigt sich mitunter daran, dass die Zahlen für psychische Erkrankungen immer weiter steigen (übrigens auch stärker bei marginalisierten Gruppen). Man könnte somit sagen: NTs beginnen, die Seite zu wechseln und werden zu NDs.
ADHS+/Autist:innen spüren die negativen Auswirkungen reprssiver und leistungsbasierter Systeme oft sehr stark, weil unsere Art zu denken und zu arbeiten innerhalb eben dieser Systeme nicht der erwünschten Norm entspricht. Darauf bezieht sich dann auch der Großteil ableistischer Diskriminierung. Aber das verläuft nicht für alle gleich. Wenn wir als NDs mit genügend Privilegien auf die Welt kommen, spielt das kaum eine Rolle mehr, im Gegenteil, dann kann Neurodivergenz sogar zum Vorteil werden. (Siehe bspw. Bill, Steve, Elon.)
Aber ohne Geld und Absicherung, ohne Male- und Whiteness, ohne in Sicherheit leben zu können, ohne dass wir uns entfalten können, im Einklang mit unserem Gehirn leben dürfen und selbstverständlich Unterstützung erfahren, werden die Belastungen, die mit ADHS+/Autismus einhergehen können, schnell mehr. Und damit kommt innerhalb einer Leistungsgesellschaft Abwertung und Pathologisierung.
NTs sind meist resilienter als wir, psychische Erkrankungen entwickeln sich unter denselben Umständen i.d.R. später, unter mehr Stress, mehr Druck als bei uns – denn unser Leben ist im Grunde geprägt von chronischem Stress. Die Grundlagen sind also unterschiedlich und wir erleben unter denselben Bedingungen oft viel schneller physisch und psychisch Auswirkungen.
Unter zunehmendem Druck von außen, wenn Menschen dauerhaft als „Arbeitsmaterial“ funktionieren sollen, sich ihr Wert nur noch über monetäre Leistung definiert, wirkt es sich auf NTs eben dann irgendwann auch aus. Die typischen Gehirnfunktionen von NTs eignen sich vielleicht besser, um in repressven Systemen durchzukommen, aber auch das hat Grenzen. ADHS+/Autist:innen sind dabei wie Seismografen: Wir spüren belastende Lebensumstände und Krisen oft nur früher und stärker.
Die Grenze verläuft erstmal zwischen
reich und nichtreich,
zwischen weiß und BIPOC,
zwischen cis Männern und allen anderen Gendern.
Und erst, wenn wir dort mit wenigen Privilegien rausgehen, verläuft sie auch zwischen NT und ND. Ein weißer, reicher, ADHS+/autistischer, cishet Mann wird aufgrund seiner ND in der Regel kaum Diskriminierung erleben.
Um es zusammenzufassen: Die Welt ist nicht für ADHS+/Autist:innen gebaut, nicht auf uns ausgerichtet, das stimmt. Aber auch nicht für NTs. Sie ist auf diejenigen zugeschnitten, die bestimmte Privilegien besitzen, die vor allem reich sind, aber auch weiß und cis-männlich. Menschen ohne diese Privilegien (egal ob ND oder NT), erfahren leichter Abwertung und Diskriminierung. Diskriminierung gegen NDs entsteht also nicht, weil das System speziell gegen sie gerichtet ist, sondern weil bestimmte Machtstrukturen Normativitäten erzeugen, in die NDs mit wenig Privilegien schlechter hineinpassen als NTs.
Vielleicht ist das der bitterste Punkt:
Die Welt, von der wir Teil sein wollen, die „nicht für uns gebaut wurde“, ist eine Welt, in der Unterdrückng und Ausbeutng systemisch verankert sind.
Fast all unsere Glaubenssätze, mit denen wir uns täglich fertig machen – wie z.B.: „Ich bin nur wertvoll, wenn ich produktiv bin.“ – kommen aus genau dieser repressven Welt, der wir so verzweifelt angehören wollen. Und ich weiß, wir müssen uns arrangieren.
Die Spaltung, die ich in letzter Zeit immer stärker spüre, und die systemisch gewollt ist, ist nicht nur eine Spaltung zwischen NTs und NDs, nicht nur zwischen Allistics und Autist:innen, sondern sie zieht sich durch die Community: hoher vs. niedriger Unterstützungsbedarf, früh erkannt vs. spät erkannt, offizielle Diagnose vs. Selbstdiagnose.
Praktisch, denn dann denkt kaum jemand mehr an das eigentliche Problem.
Lasst uns kein Teil davon sein.
Eine wirklich inklusive Gesellschaftsform – eine Utopie, die sich kaum denken lässt, so sehr haben wir Ableismus und Autismusfeindlchkeit, Leistungsgsellschaft, Patrarchat etc. internalisiert – wäre übrigens immer für alle Menschen inklusiv – auch für NTs.
Hinweis: All die beschriebenen Zusammenhänge können hier nur angerissen werden und sind in der Realität natürlich deutlich komplexer.