Zoom fatigue vs. „Real-Life-Fatigue“ – oder: Die Möglichkeit für neurotypische Menschen einen Einblick in die Welt der Neurodivergenz zu erhalten

Gestern habe ich einen neuen Begriff kennengelernt: „Zoom fatigue“ – eine Art Burnout durch zu viel Videotelefonie. Wow, dachte ich, nachdem ich ausführlich recherchiert hatte, endlich wissen die anderen, wie es mir und so vielen neurodivergenten Menschen geht. Aber nicht während wir Zoomen, Skypen oder Facetimen, sondern sobald wir unsere Wohnungen verlassen. Zugegeben, ich kann nicht einschätzen, wie es mir mit Online-Meetings mit mehreren Personen erginge, ich arbeite ja ausschließlich im Eins-zu-Eins-Setting. Videotelefonie in diesem Rahmen ist für mich die angenehmste Form der Kommunikation überhaupt, auch privat. Keine tausend neuen Eindrücke, keine Ablenkung, keine Gefühle und schlechte Laune von Mitarbeiter:innen, Passant:innen oder Cafébesucher:innen, kein langer, überfordernder Weg zum Treffpunkt, keine unangenehmen Gerüche, keine unerwünschten Berührungen, schlicht kein: mich schützen müssen vor zu viel Input. Keine physische Beengung in der physischen Begegnung. Nur mein gegenüber in einem kleinen Ausschnitt und ich in meiner Wohnung, in der ich alles so gut kenne, dass nichts nach Aufmerksamkeit schreit. Der volle Fokus auf die Person, mit der ich interagiere. Missverständnisse durch Verlust von Informationen durch den indirekten Kontakt kenne ich nicht, da ich ohnehin so viel wahrnehme, dass da ein Bildschirm keine Hürde ist. Und Augenkontakt? Für Menschen, die viele sensorische Reize aufnehmen, auch oft überbewertet.

Wollen wir uns einmal ein paar mögliche Ursachen von Zoom fatigue genauer ansehen und mit dem normalen Leben von neurodivergenten Menschen* vergleichen:

1. Es fehlt bei Online-Meetings an nonverbaler Kommunikation, Körpersprache und Gestik, das Gehirn sucht danach und kann nichts finden. – Das ist in etwa vergleichbar mit der ganz normalen verbalen Kommunikation für ADHSler:innen – durch Assoziationsketten, die durch einzelne Worte ausgelöst werden, aber auch in einer Umgebung mit vielen Reizen (letzteres gilt auch für Hochsensible), sind wir oft so abgelenkt, dass wir ganze Teile von Gesprächen verpassen und unsere Gehirn krampfhaft versucht, die fehlenden Puzzlestücke zu rekonstruieren – denn nach dem dritten Mal nachfragen, was gerade gesagt wurde, kommen wir uns zu doof vor, um das noch ein viertes, fünftes oder sechstes Mal zu tun. Das Gegenüber könnte ja denken, es interessiere uns nicht. Auch gibt es viele neurodivergente Menschen, v.a. im Autismus-Spektrum, die mit nonverbaler Kommunikation nicht viel anfangen können und dann mit Anstrengung versuchen müssen, die Lücken zu füllen.

2. Es entsteht das Gefühl durchgängig beobachtet zu werden, auf einer Bühne zu stehen und performen, sich von der besten Seite zeigen zu müssen, was sozialen Druck auslöst. Auch das eigene Bild zu sehen führt zu einer ständigen Überprüfung des eigenen Selbst. – Dies ist wie die Maske, die in der Öffentlichkeit von neurodivergenten Menschen aufgesetzt wird, um „normal“ zu erscheinen und sozial nicht ausgegrenzt zu werden. ADHSler:innen und Autist:innen, die sich dauernd überprüfen müssen: aufpassen, nichts Unangebrachtes zu sagen, niemanden durch impulsive Äußerungen zu verletzen, nicht unhöflich zu erscheinen, nicht zu viel oder dazwischenzureden, nicht ständig irgendwo gegenzustoßen, richtig Small-Talk zu betreiben und trotzdem immer alles falsch zu machen scheinen, haben sehr oft das Gefühl, unter besonderer Beobachtung zu stehen und „performen“ zu müssen.

3. Es kommt bei Zoom fatigue zu einer Reizüberflutung, anscheinend kann das neurotypische Gehirn nicht so gut filtern, wenn mehrere Bildschirme nebeneinander zu sehen sind. Hier blendet ein Licht, da läuft ein Kind durch den Raum, ein Ton hier, ein Ton da, viele Gesichter, viele Bewegungen, viele Hintergründe, alles ist gleichzeitig da, ist neu und will beachtet und verarbeitet werden. – Das verdient von einem reizoffenen, neurodivergenten Menschen nur ein müdes Lächeln. Dadurch, dass unsere Reizfilter viel mehr sogenannte „unwichtige“ Reize durchlassen, sind wir viel schneller überstimuliert – das Gehirn braucht dann eigentlich Ruhe, um die Reizüberflutung verarbeiten zu können. Vor allem, wenn dies nicht möglich ist (im Beruf oder in der S-Bahn) führt diese Überforderung zu Erschöpfung, zu körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Verspannungen, psychischen Symptomen wie Depressionen oder Panikattacken, zum Shutdown oder Meltdown. Das ist im Grunde unser täglich Brot. Die Reizwahrnehmung zeichnet interessanterweise auch eine Gleichzeitigkeit aus, ähnlich wie am Bildschirm: In einem gut besuchten Café zum Beispiel steht das Geräusch der Kaffeemaschine neben der laufenden Musik, neben dem Gespräch am Nebentisch, neben der Krankenwagensirene draußen, neben dem Gespräch, das wir führen. Hintergrund gibt es nicht wirklich, es ist alles gleichzeitig da. Visuell ist das auch nicht anders. Gerade ADHSler:innen sehen oft weniger räumlich (daher können sie mitunter Entfernungen schlechter einschätzen und holen sich gerne viele blaue Flecken).

Aus multifaktoriellen Gründen ist es also schwer, bei Online-Meetings das Aufmerksamkeitsniveau und die kognitive Energie aufrecht zu erhalten. – Das beschreibt das alltägliche Leben von Menschen mit ADHS und vielen anderen neurodivergenten Menschen. Wir leiden im Grunde unter einer Real-Life-Fatigue. Welcome to our world.

Ihr Lieben da draußen, die ihr unter Zoom fatigue leidet: Ich fühle euch! Ich verstehe euch – auch wenn ich das Phänomen selbst nicht nachvollziehen kann, weil meine Wahrnehmung eine andere ist, denn ich akzeptiere eure Wahrnehmung und eure Bedürfnisse. Und ich sage euch nicht: Wenn euch etwas so Normales so erschöpft, solltet ihr vielleicht eine Therapie machen! Ich werde euch nicht böse sein, wenn ihr nicht mit mir skypen wollt, oder euch das Gefühl geben, dass mit euch etwas nicht stimmt und ich werde nicht denken, dass ich euch einfach nicht wichtig genug bin! – Und ich bitte dringend darum, jetzt, da ihr ein paar Meter in unseren Schuhen gelaufen seid: Tut dasselbe umgekehrt auch mit uns.

* Anmerkung:

Es gibt mit Sicherheit viele neurodivergente Menschen, die Zoom fatigue kennen und auch ist nicht für alle die Belastung durch soziale Interaktionen außerhalb der eigenen vier Wände stark erschöpfend – Neurodivergenz ist ein Spektrum. Wenn ich von „wir“ oder „uns“ rede, meine ich ausschließlich Personen mit, die sich angesprochen fühlen!