Der Selbstdiagnose-Prozess bei ADHS/+Autismus ist oft ein Trauerprozess
Wenn wir im Erwachsenenalter beginnen, uns mit bis dato unentdeckten Neurodivergenzen1 auseinanderzusetzen, geht dies oft mit Trauer einher. Die Trauer dreht sich oft erstmal gar nicht um das Neurodivergent-Sein selbst, sondern darum, was im Leben hätte anders laufen können, wenn es bekannt gewesen wäre, und wie häufig man falsch und verurteilend behandelt und gegaslighted wurde. Die Trauer dreht sich also erstmal um die verpassten Chancen und die Ungerechtigkeiten, denen man ausgesetzt war.
Die Trauer um unser Kind-Ich, Jugendlichen-Ich, Junge-Erwachsene-Ich, das es härter hatte, als es hätte sein müssen, das sich falsch, unverstanden, gehasst gefühlt hat, das allein war, missverstanden und gemobbed wurde, dem es so so so oft so so so schlecht ging.
Dann gibt es auch wieder Momente der Erleichterung: Ich bin doch nicht falsch / faul / unfähig / unhöflich / selbstsüchtig / stur etc. Gleichzeitig sind das auch Trigger, die genau die Situationen, in denen eben das unterstellt wurde, wieder hochholen. Diese Ohnmacht, die das auslöste.
Es gibt die Hoffnung, dass die Menschen, von denen man so behandelt wurde, ihre Ungerechtigkeiten einsehen, man nun endlich so akzeptiert wird, wie man ist. Oft endet auch das in Enttäuschung und erneutem Gaslighting – es stehen hier harte Entscheidungen an: wen kann ich noch in meinem Leben lassen und unter welchen Bedingungen?
Die Trauer um Menschen, die man liebt, die einen aber nie so annehmen werden, wie man ist.
Und als wäre das alles noch nicht genug… Es kommt der Moment, in dem man begreift: Das Leben, so wie ich dachte, dass es sein würde (wenn ich es nur endlich mal auf die Reihe gekriegt habe), wird so wahrscheinlich nie existieren. Denn ADHS und Autismus sind Behinderungen in dieser Gesellschaft, und das bringt es mit sich, dass das Leben in der Regele anders verläuft als das von nichtbehinderten Menschen. Und auch hier geht es um Trauer, dieses Bild, die Vorstellung, die man vom Leben und sich selbst hatte, aufgeben zu müssen.
Die Trauer um das Leben, das man nie führen wird.
Und wenn man da durch ist, so lange es auch dauert, so hart der Weg auch ist (und bitte, nehmt euch Zeit und holt euch Hilfe, wenn nötig), dann ist der Weg frei auf ein selbstbestimmtes Leben, das sich nicht mehr an der Normgesellschaft ausrichtet, sondern an den eigenen Bedürfnissen.
Auch das wird nicht immer einfach sein, aber es ist eine Chance auf ein authentisches und erfülltes Leben.
- Ich benutze den Begriff „Neurodivergenz“ aus Einfachheitsgründen stellvertretend für ADHS und/oder Autismus, was nicht bedeutet, dass nicht gleiches auch für andere Neurodivergenzen gelten kann. ↩︎