Warum das Wort „Betroffene“, genauso wie „leiden“, in Bezug auf ADHS und Autismus höchst problematisch ist

Das Wort, das oft und auch zu Recht kritisiert wird, ist das „leiden“ unter ADHS/Autismus. Der Ableismus ist hier offensichtlich: Es wird neurodivergenten* Personen (NDs) unterstellt, sie müssten zwangsläufig an ihrer „Erkrankung“ (wenn „leiden“ auftaucht ist auch dieses Wort nicht fern) leiden, ND sei zwangsläufig etwas Schlimmes, worunter man leiden muss – die Deutungshoheit liegt hier meist bei neurotypischen Menschen (NTs), die sich nicht mal im Traum vorstellen können, dass ADHS und/oder Autismus etwas sein kann, dass man nicht unbedingt loswerden möchte, selbst wenn es möglich wäre.
 
Daher atmen viele NDs gemeinhin auf, wenn statt dem offensichtlich bewertenden „leiden“ von „Betroffenen“ geschrieben wird. Doch der Begriff ist nicht viel besser. Zuerst einmal suggeriert er Betroffenheit, ich habe da immer gleich Bilder im Kopf von NTs, die ganz betroffen auf die armen ADHSler:innen und Autist:innen gucken, die so ein schweres Los gezogen haben, von oben herab versteht sich. Aber das ist natürlich nicht das, was das Wort eigentlich bedeutet. Und hier kommen wir eben auch zum Kern.
 
Von etwas betroffen zu sein heißt nie etwas Gutes. Menschen sind von Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Krieg betroffen, niemals von einem Lottogewinn, einem tollen Jobangebot, Gesundheit und Frieden. Der Begriff des Betroffenseins bezieht sich per se auf einen Zustand, der vermieden werden möchte. Und hier unterscheidet sich der Begriff dann nämlich nicht mehr vom Begriff des „unter … leiden“. Also auch hier finden wir die ableistische Abwertung, das Beurteilen (zumeist von außen). Wir dürfen nicht vergessen, dass Sprache Wirklichkeit konstituiert, d.h. wenn Neurodivergenz (ND) fast ausschließlich im Zusammenhang mit negativ konnotierten Begriffen verwendet wird, brennt sich dieser Zusammenhang der Empfänger:in ein und wird als etwas Negatives wahrgenommen.
 
ND ist nichts per se Schlechtes, Schlimmes, etwas worunter man zwangsläufig leiden muss. Was nicht heißt, dass nicht auch individuell darunter gelitten wird oder es NDs gibt, die gerne neurotypisch wären. Auch das ist in Ordnung. Es ist aber nicht in Ordnung, grundsätzlich Autismus und AHDS als etwas Schlechtes, Schlimmes, etwas worunter man nur leiden kann, hinzustellen. Vor allem wenn das aus einer NT-Perspektive geschieht. Das Neurodiversitäts-Konzept dient dazu, ND neutral zu betrachten. Nicht besser, nicht schlechter. Mit Unterschieden zwischen den verschiedenen Neurotypen.
 
Es schwingt bei diesen Begriffen so viel fake Mitleid und Betroffenengedöns mit, dass mir immer ganz schlecht wird. Diese Art Mitleid ist auch Mittel dazu, den Wert zu bestimmen, die Hierarchie, die Privilegien klarzustellen. Es ist dieses: Ich als NT, als „normale“ Person ohne Schwierigkeiten im Leben (Übertreibung) habe Mitleid mit dir leidender Person, ich bin ganz betroffen von deinem schweren Schicksal. Das macht ganz klar, wer hier die überlegene Person ist. Diese Einstellung und Benutzung dieser Begriffe führt dazu, dass NTs NDs weiterhin nicht als gleichwertig wahrnehmen, ernst nehmen und behandeln.    
 
Was also stattdessen sagen?
Macht es euch einfach. Nennt beim Namen, was ihr sagen wollt. Redet von Autist:innen und ADHSler:innen, wenn es um Autist:innen und ADHSler:innen geht, von autistischen und ADHS-Personen, von NDs oder neurodivergenten Menschen. Es ist wie mit dem Wort „Behinderung“ – alles Drumherumgerede entlarvt die Befangenheit mit dem Thema, den Ableismus, der dahinter steht. Und das Mitleid. Brauchen wir Mitleid? Nein, denn in der Regel brauchen wir Akzeptanz und Respekt, Nachteilsausgleiche und Barrierefreiheit, wir brauchen, dass unsere Würde nicht angetastet wird. Mitleid und Überheblichkeit können gerne sonstwohin geschoben werden. Betroffen sind wir von einem ableistischen System.
 
 
 
*Ich verwende den Begriff der Neurodivergenz hier stellvertretend hauptsächlich für ADHS und Autismus, was nicht heißt, dass dasselbe nicht für andere Neurodivergenzen ebenso gelten kann.