Neurodivergenz als Projektionsfläche

Ein Stachel im System

Anderssein, nicht „normal“ sein, nicht den Erwartungen zu entsprechen, aus der „Rolle“ fallen löst oft Widerstände aus, und das nicht nur beim normativen Durchschnitt. Es zeigt sich gern in Form von Shaming, Urteilen, Beurteilungen, Abwertungen, Mobbing, Vorwürfen, Angriffen, Unverständnis, Lästern etc. Das Andere löst Angst aus, weil es nicht einordenbar ist. Das Andere löst Angst aus, weil es zeigt, dass die Welt nicht einfach, geradlinig, linear ist. Weil es zeigt, dass es nicht den einen sicheren Weg gibt, an den man sich hält und dann wird am Ende alles gut. Weil es zeigt, dass nichts, was ich internalisiert habe, was ich gelernt habe, gelesen habe, eingeprägt, vorgelebt bekommen habe, zwangsläufig stimmt. Weil es die Weltordnung stört, weil es beim verdrängen stört, weil es zwingt, sich auseinanderzusetzen mit unbequemen Themen, die, so ahnt man, mehr mit dem eigenen Selbst zu tun haben, als man sich eingestehen will.

Die Projektionsfläche, das sind wir. Ungefragt, ob wir das wollen. Anderssein ist politisch.

Wenn wir Frauen oder nichtbinär sind und uns nicht in stereotype Rollenmuster fügen; wenn wir wütend sind, und das zeigen; wenn wir queer sind; wenn wir neurodivergent, behindert, chronisch oder psychisch krank sind und uns nicht darüber definieren, wie produktiv wir sind; wenn wir patriarchale und kapitalistische Narrative erkennen und uns von diesen lösen; wenn wir aufhören, gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen; wenn wir unser Leben nach unseren Bedürfnissen ausrichten; – egal ob aus einer Überzeugung oder aus einer Notwendigkeit heraus – und wenn wir dann das alles nicht mal still und leise machen, sondern laut sind; uns so zeigen, wie wir sind; ohne Scham sind (Wie können sie nur!); sichtbar sind mit den Problemen, die uns das System auferlegt, auf unsere Rechte bestehen – dann werden wir zu einem Stachel in der bestehenden Ordnung, dann bringen wir andere in den Widerstand, dann erzeugen wir Angst, weil dadurch deutlich wird, dass es kein gutes System ist, in dem wir leben.

Je unangepasster wir sind, uns nicht mehr in Schablonen pressen; nicht mehr in Kauf nehmen, dass unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, unser Selbst darunter leidet, umso mehr wird sich dieses, unser „Andere“ normalisieren. Das muss kein revolutionärer Akt sein. Sobald wir beginnen uns außerhalb der Narrative der Leistungsgesellschaft und der Rollen, die für uns vorgesehen sind, zu bewegen, stoßen wir bei anderen etwas an. Am Anfang ist das noch Abwehr, manchmal Neid, aber immer mehr und mehr ein Umdenken, ein Hinterfragen, ein sich Auseinandersetzen, das Erahnen der Möglichkeit, dass es mehr als einen Weg gibt.

Allein durch unsere Existenz sind wir der Sand im Getriebe. Wir verweisen auf die Bruchstellen im System. Ein System, das für den Großteil der Menschen nicht funktioniert, an dem nach und nach immer mehr erkranken – wir sind nur die, bei denen es zuerst ankommt, die, die als erste dazu gezwungen sind, sich damit auseinanderzusetzen, die die Narrative umformen, das Leben radikal anders führen müssen. Und dadurch Projektionsfläche werden, für die, die es sich nicht trauen. Sich nicht zugestehen, den Raum für sich und ihre Bedürfnisse zu nehmen, aus Angst davor, auch als „anders“ wahrgenommen zu werden, kein „funktionierender Teil“ der Gesellschaft zu sein, keinen „Wert“ zu haben, ausgeschlossen zu werden, nicht mehr geliebt zu werden. Das System hat System. Wir halten die Tür für sie einen Spalt auf, wenn wir aufhören, uns zu schämen und shamen zu lassen.